„Mami, gibt es Drachen ?“, fragte die kleine Janette ihre Mutter. Diese ließ ihre Handarbeit liegen und schaute auf, „nein mein Kind, es gibt keine Drachen. Das sind alles nur Geschichten.“ „Woher weißt du das“, fragte die Kleine. „Ich weiß es halt und jetzt mach das du ins Bett kommst, es ist schon spät.“ Das Mädchen ging zur Tür und mit einem „gute Nacht Mami“, verließ sie den Raum. Eine Träne rann über das Gesicht der Mutter, ihre Stickerei fiel zu Boden. Sie hatte soeben ihre Tochter belogen, es gibt Drachen, einen hatte sie mal gekannt. Sie blickte auf die flackernde Flammen im Kamin, die alten Bilder stiegen wieder vor ihren Augen auf. Sie war noch ein junge Prinzessin, damals. Sie spielte im Garten, nahe am Wald, genau da wo ihr Vater es ihr immer verboten hatte. Da sah sie etwas im Gras liegen, sie näherte sich vorsichtig und doch neugierig. Vor ihr im Gras lag ein kleiner Drache und sah sie mit großen Augen an. „Was bist du denn für einer“, fragte sie ohne eine Antwort zu erwarten. „Ich bin Kantano der Drache“, antwortete das kleine Wesen. „Du kannst sprechen“, fragte die Prinzessin erstaunt. „Ja, warum nicht, alle Drachen können sprechen.“ So fing das damals an. Sie baute ihm ein Nest aus Stroh, welches sie aus den Pferdeställen nahm und brachte ihm immer etwas zu essen. Es dauerte gar nicht lange, da konnte Kantano wieder fliegen. Aber er kam immer wieder zu der Prinzessin zurück. Sie spielten, plauderten und hatten eine schöne Zeit. Die Prinzessin wuchs heran und wurde immer schöner, ihr langes, blondes Haar glänzte in der Sonne wie Gold. Es kam die Zeit wo die Prinzen sich für sie zu interessieren begannen. Doch sie sprach lieber mit ihrem kleinen Freund dem Drachen, der ihr immer etwas vorsang wenn sie sich nicht wohlfühlte und immer für sie da war wenn sie ihn brauchte. Dann kam dieser Schicksalhafte Tag, ihr Vater stellte ihr ihren zukünftigen Mann vor. Ein stattlicher Jüngling, mit einem freundlichen Gesicht. Am Abend rannte sie sofort zu der Wiese am Wald, wo der Drache schon wartete und erzählte ihm alles. Er schaute traurig in ihre Augen, „ich habe gewußt das sowas kommt, bald ist es Zeit für uns Lebewohl zusagen.“ „Nein“, viel ihm die Prinzessin ins Wort, „das werde ich nicht zulassen.“ Doch der Drache sah sie weiterhin traurig an und entgegnete, „da ist etwas was ich dir noch nie erzählt habe. Setze dich zu mir ins Gras und höre mir zu.“ Und der Drache erzählte von seiner Welt und offenbarte ihr, das er dort der König sei. Doch fühle er sich dort so einsam und nur in ihrer Nähe spüre er die Wärme der Liebe. Die Prinzessin sah ihn lange an ohne ein Wort zu sagen und als es dunkel wurde ging sie zurück zum Schloß. „Bis Morgen, ich muß etwas nachdenken“, rief sie ihm noch zu. Der Drache erhob sich, breitete seine Schwingen aus und entschwand in der Nacht. Am nächsten Tag trafen sie sich wieder. Die Prinzessin sah ihn an, wie er da vor ihm im Gras hockte, „ich habe darüber nachgedacht. Ich will diesen Prinzen nicht heiraten, er sieht zwar toll aus, aber er kann mir nicht das geben was du mir gibst. Nimm mich mit in deine Welt.“ So vergingen die Tage, beide lagen so oft sie konnten im Gras und sponnen gemeinsam Träume über die Zukunft. Dann kam der Tag der Hochzeit. Sie hatten abgemacht, daß sie sich am Abend zuvor an ihrer Stelle am Wald treffen um dann gemeinsam in das Drachenland zu fliegen. Der Drache saß nun schon seit Stunden dort im Gras wo sie immer so glücklich gewesen waren und wartete. Die Sonne war schon längst untergegangen. Er wartete die ganze Nacht und den ganzen nächsten Tag. Doch die Prinzessin, seine Prinzessin erschien nicht. Statt dessen hörte er den Lärm der Feier, das Lachen der Gäste und nach Einbruch der Dunkelheit sah er die bunten Lichter mit denen das Schloß geschmückt worden war. Der Drache saß dort ganz allein und weinte still vor sich hin. Die Tränen rannten über sein Gesicht und fielen zu Boden und dort wo sie die Erde berührten verwelkte sofort das Gras, so bitter waren seine Tränen. Die Hochzeit war zu ende, das Paar lag im Hochzeitsbett, das Fenster wegen der Hitze geöffnet. Gerade wollte der Prinz sie küssen, da wehte der Wind den Gesang des Drachens durch das Fenster in den Raum. „Was ist denn das“, fragte er gereizt. „Das weiß ich auch nicht“, antwortete sie und gab sich ihm hin, mit einer Träne im Auge. Nur ein Betrunkener sah den Drachen im Licht des Vollmondes verschwinden, aber er konnte sich am nächsten Tag nicht mehr daran erinnern. Kein Mensch hatte ihn seitdem je wieder gesehen.
Das alles war nun schon über zehn Jahre her, doch noch immer war die Erinnerung in ihr wach. Sie hatte sich damals dafür entschieden hier, in ihrer Welt zu bleiben. Hier kannte sie alles, hier kannte sie die Spielregeln. Sie scheute das Risiko und so hatte sie sich schließlich doch für die Heirat entschieden. Aber ob das Richtig war, sie wußte es immer noch nicht. Am Tage, bei der Arbeit dachte sie nicht daran, auch nicht in der Nacht wenn ihr König bei ihr lag. Aber wenn sie allein ist, dann kommen die Zweifel wieder hoch. Und manchmal nachts, bei Vollmond, da glaubt sie den Gesang des Drachens zu hören. In solchen Nächten weiß sie, daß ihre Entscheidung falsch war, denn hier kann man nicht träumen. Schon gar nicht zusammen mit ihrem Mann.
Dedicated to Silke N. Paderborn, 16.05.1995