Ich weiss, es kann sich heute niemand mehr so richtig vorstellen, aber Zucker ist eine recht neue Erfindung. Und früher mussten die Kinder auf dieses süße Erlebnis oft verzichten. Denn der Honig war teuer und die meisten Menschen waren arm. Aber es gab noch eine andere Möglichkeit seine Mahlzeit zu versüßen, jedenfalls für die Kinder. Und davon soll diese kleine Geschichte handeln.
Wenn man durch die Bauerndörfer zog konnte man oft die Kinder hören, wie sie ihre Eltern anbettelten. „Bitte, nur einen kleinen Löffel Honig in die Suppe, sie schmeckt so fad. “ Und wenn man gute Ohren besaß konnte man das leise Schluchzen der Mutter hören bevor sie antwortete. „Mein Liebling, hätte ich Honig. Ich würd‘ ihn dir geben. Doch sieh, wir sind nur arme Bauersleut. Und der Nektar der Blumen ist zu teuer für uns.“ Und das war wohl wahr. Und so aßen sie Abend für Abend ihr karges Süppchen ohne zu murren. Doch nach dem Mahl, wenn die gesamte Familie am Kamin saß in dem knisternden das Feuerholz brannte. Die Großmutter mit der Handarbeit beschäftigt, der Vater den großen Hund streichelnd, dann erzählte die Mutter oft die Geschichte von der Zuckerfee:
Die Zuckerfee ist ein zartes Wesen das im fernen Zauberwalde in einem alten Baum wohnt. Und wie alle Feen und Zauberwesen ist sie für die Menschen unsichtbar. Nur Babies und ganz kleine Kinder können sie sehen. Doch sicher weiss das niemand, aber warum sonst schauen sich kleine Kinder nach Dingen um die niemand anders sieht ? Am Tage verläßt die Zuckerfee ihren Wald und fliegt in die Dörfer der Menschen. Um die Menschenkinder zu beobachten. Sie hält Ausschau nach den lieben Kindern, nach solchen die den Worten ihrer Eltern folgen. Die artig sind und sauber. Und solchen versüßte sie dann mit ihrer Magie die Suppe. Sie selbst bleibt dabei ungesehen, kein Mensch kennt sie. Und doch erfreut sie sich an dem freudigen Lächeln der Kleinen, wenn sie ihre Suppe kosten. Jedesmal wollt‘ ihr Herz vor Freude zerspringen. Das Lachen der Kinder war ihr Leben.
Und es entsprach der Wahrheit. So stimmten alle, nachdem die Mutter mit ihrer Geschichte geendet hatte, überein. An manchen Tagen war die Suppe wirklich süßer. Alle konnten das beschwören, schon die Großmutter hatte es so erlebt. Und ihre Großmutter ebenfalls.
So, oder so ähnlich erzählten fast alle Mütter ihren Kindern die Geschichte der Zuckerfee. Und deren Kinder dann wieder ihren Kindern. Und alle glaubten fest daran. Die Zuckerfee schwebte manchmal daneben, ungesehen, und hörte sich lächelnd die Geschichte an. Bevor sie zurück kehrte, in den dunklen Wald zu ihrem Baum. Manchmal in der Nacht saß sie einfach so da und betrachtete den Mond der sich in dem klaren See spiegelte. Er erinnerte sie an den freudigen Glanz der großen Kinderaugen.
Die Welt wurde älter und änderte sich. Maschinen kamen auf. Riesige, rauchende Monster, die alles frassen. Der Wald wurde dünner. Feuerholz für die Maschinen. Und dann wurde der Zucker erfunden. Erst aus Zuckerrohr, dann aus den billigen Rüben. Jeder konnte sich nun seine Suppe selbst versüßen. Für ein paar Pfennige gab es ihn überall, den süßen Traum.
Von heute auf Morgen war das Leben der Zuckerfee ohne Sinn. Kein Kind lachte mehr freudig wenn sie ihm das Essen versüßte. Denn jedes Essen ward nun süß. Die arme Fee wurde krank. Sie zog sich zurück in ihren Baum. Sie blickte Nachts nicht mehr auf den See. Zu schwer lag die Erinnerung in den Bildern die sich an seiner Oberfläche spiegelten. Sie wollte sich verkriechen und sterben. Doch starb sie nicht. Sie war wie alle Zauberwesen zur Unendlichkeit verdammt. Die meisten anderen Elfen, Feen und auch schon fast alle Gnome waren verschwunden. Sie hatten das Weite gesucht. Diese Welt brauchte sie nicht mehr. Doch die kleine Zuckerfee war zu schwach zum flüchten.
Doch als eines Tages auch ihr Baum gefällt wurde, machte sie sich auf den Weg. Doch wo sollte sie hin. Eine Ewigkeit hatte sie die Kinder erfreut. Sie zu netten Menschen gemacht, mit ihrer Magie. Und jetzt ? Niemand schien sie mehr zu brauchen. Mit trüben Gedanken wandelte sie durch die Welt der Menschen. Auf der Suche nach einem Fleckchen Erde wo es so war, wie es einst gewesen. Wo sie glücklich sein konnte. Doch diesen Flecken Erde gab es nicht. Nichts war wie es einmal gewesen. Die Zeiten hatten sich geändert, endgültig.
Die Zuckerfee hatte sich in einen kleinen Wald zurück gezogen. Hier wohnte sie nun schon seit etlichen Jahren, oder noch länger? Ich weiß es nicht genau. Ihr Haar war stumpf geworden und ihre Flügel mochten sie nicht mehr so recht tragen, so kraftlos waren sie.
Doch eines Sommertags sollte sich alles ändern. Als sie mutlos und ohne Ziel durch ihr kleines Wäldchen schlenderte hörte sie ein Seufzen. Neugierig folgte sie dem traurigen Klang. Und schon bald fand sie einen Jüngling der es sich im weichen Gras gemütlich gemacht hatte. Traurig schaute er in den Himmel und sprach zu sich selbst: „Mein Liebchen, noch drei lange Wochen und wir sehen uns wieder. Doch wie soll ich diese lange Zeit ertragen ? Sie fehlt mir so. Könnte ich doch ihren zuckersüßen Kuß auf meinen Lippen noch schmecken.“ Die Zuckerfee lehnte an einem Baum und hörte dem Jüngling bei seinem Selbstgespräch zu. Nachdenklich sah sie ihn an. Er schloss seine Augen und schlief in der warmen Sonne und auf dem weichen Moos ein. Langsam, ganz behutsam näherte sich die Zuckerfee dem Schläfer und hauchte ihm sanft einen Kuss auf die roten Lippen. Sogleich erwachte er. „War wohl nur ein Traum das meine Marie mich küsste, schade“, so dachte er verwirrt. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und stockte. „Aber ich schmecke doch ganz deutlich ihren süßen Kuß. Wie kann es dann ein Traum gewesen sein ?“, rief er freudig aus. Lächelnd schlich sich die Zuckerfee davon.
Und deshalb denkt dran, wenn ihr euren liebsten Menschen vermisst. Und erwacht von einem Kuß. Dann könnte das die Zuckerfee gewesen sein, die euch das Warten versüßen wollte. Einige Menschen wollen sogar noch den Luftzug ihrer Flügel gespürt haben. Doch das ist nur ein Gerücht.
Und weil niemand mehr die Geschichte erzählen wollte, tat ich es. In der Hoffnung das ihr sie weiter erzählt. Auf das sie einmal lächelnd neben euch sitzt, während ihr sie erzählt.
Dedicated to Nadja, Spätsommer 1999